Anders Märchen - Leseproben




Spechtel,
der
Held des Volkes





... Er setzte sich, befreite sich von der Last der Rucksacks, aß Brot und trank dazu einen Schluck kühles Wasser, das ihm nach dieser Kletterei sehr gut tat.
Als die Dunkelheit hereinbrach, wollte sich der Spechtel etwas zur Ruhe legen und sank mit seinem Kopf auf den gemütlichen Rucksack und schloss seine Augen.
Als er gerade in einen Traum zu versinken begann, weckte ihn plötzlich das fürchterlichste Gebrüll, das er jemals gehört hatte. Gute Einhundert Schritt über ihm dröhnte das laute Geschrei und Getöse vom Berg und seltsame Lichter waren zu sehen. Da schlich der Spechtel langsam den Berg hinauf und traute seinen Augen nicht, als er das Folgende sah.
Da war eine Höhle, die links und rechts oberhalb des Eingangs große Vertiefungen hatte, in denen lodernde Ölfeuer brannten.
Etwas weiter hinten im Eingang stand ein Zwerg von stämmiger Statur, der kraftvoll in eine große Muschel blies, welche derartig schreckliche Töne erzeugte, sodass sich der Wiederhall wie das Gebrüll eines riesigen Ungeheuers anhörte.
Der Spechtel konnte es nicht glauben, nein, das konnte er nicht.
Eindeutig war hier kein Monster am Werk, das Menschen verspeisen wollte.
Doch wo waren dann all jene, die niemals wiederkehrten, nachdem sie den Fels erklommen hatten? Und wer war dieser Zwerg?
Spechtel wartete, bis der Zwerg das lautstarke Getöse beendete und dann spurlos im Inneren der Höhle verschwand.
Dann versteckte er den Lederbeutel mit dem Gold sehr sorgfältig und machte sich mit Brot und Wasser auf den Weg.
Langsam schlich er in die Höhle hinein. Immer tiefer und tiefer drang er in dieses steinige Reich und zunehmend wurde es wärmer. Als er eine knappe halbe Stunde geschlichen war, hörte er aus nicht all zu weiter Entfernung Gelächter, Musik und übermütiges Gebrüll. Er klatschte sich fest auf die linke Backe, da er sicher sein wollte, dass dies kein Traum war, der sich einen Scherz mit ihm erlaubte. Doch der folgende Schmerz bestätigte, dass der Spechtel wach und eindeutig in einer Höhle war, in der ein fröhliches Fest gefeiert wurde.
Nun wollte es der Spechtel genau wissen und näherte sich den Klängen so nahe, dass er den Lichtschein von mehreren Fackeln erkennen konnte.
Plötzlich rief eine tiefe Stimme: „Halt! Bleibt stehen, wenn ihr nicht als Braten über unserem Lagerfeuer enden wollt!“
Der Spechtel erschrak so sehr, dass er das Brot und den Wasserschlauch fallen ließ.
„Ah, Essen und Trinken habt ihr auch dabei! Na dann seid ihr herzlich willkommen!“, sprach die Stimme, die sich nun viel freundlicher anhörte.
Plötzlich trat in den Lichtschein jener stämmige Zwerg, den der Spechtel bereits im Höhleneingang gesehen hatte ...


Und die Moral von der Geschicht: 
„Ein Dummer war der Spechtel nicht!“
 
 



Der schlaue "Esel"
und
der gierige König





In jenen Zeiten, als Füchse für schlau und Esel für dumm gehalten wurden, lebte ein gieriger König im Reiche von Tha`Ashaan.
Der König war ein fürchterlicher Eroberer und unterdrückte alle benachbarten Länder und auch sein eigenes Volk.
Reichtum war sein höchstes Gut und er tat alles dafür, dass seine Schatzkammern stets bis zum Rande gefüllt waren.
Er besteuerte alle Bürger seines Reiches so sehr, dass keiner mehr als das besaß, was zum Überleben benötigt wurde.
Eines Tages, da dachte der König, dass er nun endlich der reichste Herrscher auf Erden war. Doch ein wandernder Händler verbreitete auf dem Marktplatz das Gerücht, dass weit im Osten ein prächtiges Königreich lag, das um ein Vielfaches größer und schöner war und dass die Armee dieses Reiches um ein Hundertfaches der hiesigen überlegen sei. Als der König davon erfuhr, wurde er sehr zornig und ließ den Händler zu sich rufen.
Als der Händler seine Worte vor dem König wiederholte, wollte der König wissen, woher der Händler von diesem Reich wusste, dessen Schönheit, Größe und Macht er beschrieb.
Der Händler berichtete von einem sprechenden Esel, der anscheinend sehr weise war und über die entferntesten Länder bestens bescheid wusste.
Da lachte der König hämisch und sprach: „Ein jeder weiß doch, dass Esel dumm wie Bohnenstroh sind und nicht sprechen können!“
Der Händler beteuerte jedoch, dass ihm dieser Esel schon oft Geschichten erzählte, welche sich später als wahr erwiesen hatten. Er betonte, dass es keinen Zweifel an der Geschichte über jenes prachtvolle Reich gäbe, von dem er selbst auf dem Marktplatz berichtet hatte.
Da wurde der König noch zorniger und ließ den Händler in die Grube zu den hungrigen Wölfen werfen, wo das Leben des Händlers ein jähes Ende nahm.
Noch an dem selben Abend brach der König vor Kummer in Tränen aus. Nicht etwa deswegen, weil er dem Händler sein Leben nahm, sondern einzig aus dem Grunde, weil er nun dachte, dass er wohl nie der reichste Herrscher dieser Welt werden konnte, wenn die Geschichte des Händlers stimmte.
Dieser Gedanke zermürbte ihn so sehr, dass er weinte, weinte und nicht mehr damit aufhören konnte. Selbst beim Sprechen und Essen schluchzte er weinerlich und dicke Tränen liefen ununterbrochen über seine Wangen.
Ständig musste der König trinken, damit er durch das viele Weinen nicht austrocknete.
So ging es Wochen, Monate und schließlich ein ganzes Jahr.
Da fasste der König plötzlich einen Entschluss und ließ im ganzen Reich die Nachricht verbreiten, dass er sein halbes Königreich und die Hälfte seiner Schätze vergeben würde, wenn es jemandem gelänge, ihn von diesem Weinen zu befreien.
Überall wurden hölzerne Tafeln aufgestellt, die davon berichteten.
In einem der angrenzenden Ländereien, die noch zum Reich des weinerlichen Königs gehörten, lebte ein Jägersmann. Der Jäger hatte Hochachtung vor allen Geschöpfen und erlegte nur dann ein Tier, wenn es gut für den Bestand des Waldes war oder wenn er ansonsten vor Hungersnot gestorben wäre.
Die Tiere im Walde wussten dies und waren so vertraut mit dem Jäger, dass sie ihm aus den Händen fraßen.
Eines Tages, da lief dem Jäger ein Esel zu, der nicht mehr von seiner Seite wich. Da der Esel sehr genügsam war, pflegte der Jäger das Tier, baute ihm einen großzügigen Stall und lebte Seite an Seite mit dem Graupelz.
Der Esel half dem Jäger bei der Holzarbeit im Walde und führte ihn oft an Stellen, wo der Jäger essbare Pilze fand. Zwar wunderte sich der Jäger darüber, doch was sollte er Fragen stellen, denn ein Esel, so wusste doch jeder, war ein nicht all zu kluges Tier.
Eines Tages ergab es sich, da machte sich der Jäger mit dem Esel auf den Weg zum Markt, um Brennholz und getrocknete Pilze gegen andere Waren zu tauschen oder gar für ein paar Kupfermünzen zu verkaufen.
Auch auf diesem Marktplatz stand ein hölzernes Schild, das von dem Leid des gierigen Königs berichtete. Als der Esel das Schild sah, ging er gemächlich darauf zu und blieb davor stehen, ganz so, als ob er lesen könnte, was darauf geschrieben war.
Da rief ein junger Bursche aus der Menge hervor: „Seht nur, der Esel kann lesen!“
Da lachten alle auf dem Marktplatz sehr laut, denn jeder wusste, dass nur die wenigsten Leute lesen konnten und schon gar kein Esel.
Der Esel blieb jedoch noch einige Zeit ganz unbekümmert vor der Tafel stehen, dann wandte er sich um und ging zurück zu dem Jäger.
Als der Markt vorüber war, gingen beide zurück zur Jägerhütte und zu dem Stall, wo sie sich von dem langen Weg ausruhten.
Als der Jäger eingeschlafen war, machte sich der Esel plötzlich davon ...

Und die Moral von der Geschicht:

Vertraue deinen Augen nicht.

Sieh mit dem Herz,

denn das ist rein.

Selbst ein Getier kann weise sein.



Die Königin
von
Düstersonn


 


Doch obwohl der Troll bis aufs Mark verärgert war, wollte er den Menschen von Düsterwald eine einzige Hoffnung lassen. Er verkündete, dass der Fluch seine Macht verlieren würde, wenn eines Tages die Herrscherin dieses Reiches das Herz eines schönen Prinzen für sich gewinnen könne.

Nur dann solle die Sonne wieder jenen dunklen Landstrich bescheinen und die Gestalt der Menschen würde sich wieder zu wahrer Schönheit verwandeln. Auch das Feuer würde wieder die Umgebung beleuchten und die Grenzen wären auch wieder von innen nach außen geöffnet.
So wurde es von Generation zu Generation überliefert.
Doch jeder, der die neue unverheiratete Königin der Novelinge schon einmal sah, bezweifelte, dass jemals wieder ein Lichtstrahl die Gegend von Düstersonn erhellen würde.
Xera Tux war an Hässlichkeit wohl nicht mehr zu übertreffen. Sie war die hässliche Tochter eines ebenso hässlichen Königspaares, das bereits vor Jahren verstorben war. Und da sie die einzige Nachkommin dieses Paares war, wurde sie zur Königin auserkoren, so wie es das Gesetz in jener Gegend befahl.
Selbst die hässlichsten Männer von Düstersonn hielten sich von Xera Tux fern.
Sie kannte die Geschichte, dass sie ihr Reich erhellen konnte, wenn sie nur das Herz eines schönen Prinzen für sich gewinnen würde. Doch sie glaubte nicht daran, dass sie dieser Aufgabe gewachsen war.
Welcher schöne Prinz würde sein Herz an eine mit Warzen übersäte Gestalt vergeben, deren Buckel über den halben Rücken ging und deren Beine so dürr und knorrig wie junge, morsche Eichenäste waren? Ihre Haar war dünn und ihre Zähne waren zum großen Teil ausgefallen. Und jene Zähne, die sie noch in ihrem verunstalteten Munde hatte, waren verfault und rochen nach dem Mist von kranken Hühnern. Ihre Haut sah aus wie faltiges Leder und ihre dunklen Augen erinnerten an Rosinen, die ihre besten Tage bereits hinter sich hatten.
Ihre einzige Beschäftigung war es, täglich in den dunklen Wald zu gehen, um trockenes Holz für ihren alten Kamin zu sammeln.
Auch wenn sie hässlich war, waren ihr Gefühle wie Wärme und Kälte natürlich nicht fremd.
In ihrem Herzen sehnte sie sich gar nach Geborgenheit und Liebe. Doch wer sollte solch ein Weib schon lieb gewinnen?
So zog sie täglich durch die Wälder, sammelte und schnürte ihr Holz, trug es in ihr erbärmliches Schloss und lebte nur von dem, was der düstere Wald so hergab.
Das einzige Merkmal, das nicht abstoßend an ihr wirkte, war ihre liebliche Stimme. Durch ihre Zahnlücken im Munde betonte sie manche Worte auf gar lustige Art und Weise. Doch davon wussten nur wenige, denn den Gestank ihrer Mundfäule konnte selbst in Düstersonn niemand ertragen.
Somit hielten sich alle fern von ihr und sie führte ein tristes Leben, das einer Königin nicht würdig war.
Außerhalb von Düstersonn lag das strahlende Reich von Lún, das König Auron und Königin Aurora regierten.
Das Volk von Lùn war glücklich und zufrieden und es herrschte eine wahre Idylle im Land.
Alle waren so zufrieden, dass jedoch Langeweile die Tage der Bewohner plagte. Somit hatte auch diese Zufriedenheit ihre Schattenseite.
Der einzige Bewohner des Landes, der dieser Langeweile zu trotzen wagte, war Prinz Immerschön. Er war so schön, dass die Sonne mit seinem Glanze wetteiferte und manche munkelten, dass die hellsten Sterne gar neidisch auf den Prinzen waren.
Die Leidenschaften des Prinzen waren die Jagd und das Kämmen seiner langen, blonden und glänzenden Haare.
Eines Tages unternahm er auf seinem neuen Pferd, das auf den Namen Sturmwind hörte und wild wie eine Horde hungriger Wölfe war, einen Jagdausflug mit seinem Gefolge.
Als der Prinz einen Fuchs erspähte, gab er Sturmwind so sehr die Sporen, dass er wild losgaloppierte und alle anderen Begleiter weit hinter sich ließ.
Der flinke Fuchs rannte von Angst getrieben in den dunklen Wald von Düstersonn und verschwand in der furchteinflößenden Schwärze der mächtigen Tannen.
Der Prinz versuchte den wilden Ritt zu zügeln, doch es war zu spät.
In wilder Raserei galoppierte der stolze Hengst in die bedrückende Dunkelheit. Plötzlich folgte ein lautes Knacken und Pferd samt Reiter stürzten in die Tiefe.
Das Gefolge des Prinzen wagte es nicht, den Wald von Düstersonn zu betreten und so ritten sie feige zurück zum Schloss von Lùn, um dem Königspaar Bericht zu erstatten.
Doch über diese Nachricht war niemand erschrocken.
Nicht nur die Königin und der König schienen erfreut über diese Nachricht zu sein, dass der Prinz in der Schwärze von Düstersonn verschwunden war.
„Endlich passiert einmal etwas!“, hörte man aus dem Hintergrund rufen. Die Blicke des königlichen Paares hatten ganz den Anschein, als ob diese Nachricht gerade nur recht käme.
„Vielleicht erfahren wir nun endlich, was sich tatsächlich hinter diesen Schwarztannen verbirgt?“, stellte König Auron fragend in den Raum.
„Unserem Taugenichts kann eine solche Erfahrung gewiss nicht schaden. Statt arme Tiere zu hetzen und täglich mehrere Stunden sein Haar zu pflegen, kann er nun eine Erfahrung machen, die vielleicht endlich einen richtigen Mann aus ihm macht.“, warf der König etwas zornig und mit aufgebrachter Stimme hinterher.
Aurora erhob sich und blickte gelassen in die Runde. „Unserem Schönling wird schon nichts passieren. Schließlich ist er bestens ausgebildet und er weiß sowohl mit Feind und Freund bestens umzugehen.“, betonte sie mit ruhiger Stimme, obwohl sie nicht ernsthaft daran glaubte, dass sich jemand Sorgen um den Prinzen machen würde.
„Ein verzogenes Bürschchen ist er, sonst nichts!“, rief der militärische Ausbilder des Prinzen, ohne dass er dafür böse Blicke erntete.
„Ach ist das aufregend!“, bemerkte eine Magd aus der Küche, die den Worten der Versammelten gelauscht hatte, während sie wie jeden Tag den Gänsen für das stets reichliche Abendmahl die Federn rupfte.
Ja, das gab es schon lange nicht mehr, dass in Lùn mal etwas geschah, das von der üblichen Tagesordnung abwich. Endlich gab es etwas, das ungewiss war, etwas, auf das man mit Spannung warten konnte.
Währendessen erging es dem Prinzen gar nicht gut. Schwer verletzt lag er auf dem von Tannennadeln übersäten Waldboden und sah in der Dunkelheit nicht weiter, als seine Haare lang waren. Doch selbst diese Sicht war nur sehr schlecht und ließ alles nur sehr schemenhaft erscheinen. Selbst sein stolzes Ross war weit und breit nicht mehr zu sehen.
Er hatte starke Schmerzen und jammerte vor sich her, da sein linkes Bein gebrochen war.
So wie es das Schicksal wohl wollte, war Xera Tux ganz in der Nähe, um wie immer Holz zu sammeln und nach essbaren Dingen Ausschau zu halten.
Sie hörte das Wehklagen und wollte der Sache auf den Grund gehen. Da ihre schrumpeligen Augen an die Dunkelheit gewöhnt waren, konnte sie weiter und besser sehen, als der junge Prinz.
Sie erkannte schon aus der Ferne, was für ein prächtiges Bürschchen das war, das da gekrümmt auf dem Boden lag.
Schnell wickelte sie ihr Halstuch um den Mund, um ihren Gestank zu verbergen und näherte sich der schönen Gestalt.
Als sie nahe genug bei ihm war, sodass er sie hören konnte, begann sie durch ihre Zahnlücken mit ihrer gar so lieblichen Stimme zu sprechen: „Sssagt junger Herr, wer sseid ihr und woher kommt ihr?“
Immerschön blickte in die Richtung, aus der er diese feine Stimme hörte, die eine gar lustige Aussprache hatte. Er konnte jedoch nichts erkennen und stellte sich trotz seiner Schmerzen höflich vor.
Als Xera Tux hörte, dass er der Prinz von Lùn war, wurde sie sehr nervös und wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Doch da sie ein gutes und reines Herz hatte, wollte sie ihn hier nicht liegen lassen.
Durch das tägliche Holzsammeln hatte sie die Kraft eines Mannes und hob den Prinz sachte in die Höhe. Sie achtete dabei jedoch darauf, dass der Prinz nichts von ihrer Missgestalt zu spüren bekam und brachte ihn in ihr gammeliges Schloss, das bereits von Fledermäusen bestens besucht war.
Sie legte ihn auf ein altes, staubiges Bett und gab ihm Wasser zu trinken. Dann sagte sie beruhigend, dass sie sich um sein Bein kümmern würde und im Wald dafür einige Kräuter für eine heilende Paste sammeln müsste.
Prinz Immerschön bedankte sich für diese herzliche Hilfe, die er trotz seiner Schmerzen und dem üblen Gestank von Fledermauskot sehr zu schätzen wusste.
Als Xera Tux im Walde war, warf sie sich zu Boden und brach in Tränen aus. Sie wusste, dass da ein wunderschöner Prinz bei ihr im Bette lag, doch sie war sich sicher, dass er gewiss bei dem geringsten Anblick ihrer Gestalt die Flucht ergreifen würde ...

 

Und die Moral von der Geschicht:

„Fäll bewohnte Bäume nicht!“




 

Kapitän Krabbenschreck

und der Zauberzucker




Langsam ging die Sonne über dem großen blauen Meer unter. Die Besatzung des Seeräuberschiffes war schon schlafen gegangen. Nur der Seeräuberkapitän Krabbenschreck war noch wach. Er trug diesen Namen nicht, weil sich alle Krabben vor ihm fürchteten. Nein, er selbst hatte schreckliche Angst vor ihnen! Bereits dann, wenn er nur eine Krabbe aus der Ferne sah, sträubten sich ihm alle Nackenhaare und davon hatte er genügend.
Kritisch beäugte er die mit bunten Blumen und Messingbeschlägen verzierte Holzkiste, die er eben aus dem Wasser zog. Der Kapitän hatte schon viele Dinge aus dem Wasser gezogen. Auch schon viele unangenehme Dinge.
Stinkende Gummistiefel, leere Weinflaschen, ein halbvergammeltes Käsebrot und ein Heft mit 101 leckeren Grießbreirezepten. Allerdings mögen Seeräuber Grießbrei nicht so besonders gern. Doch was man hat, das hat man.
Krabbenschreck trommelte nervös mit seinen Fingerkuppen auf den Deckel der Kiste. Was konnte nur darin sein?
Gold? Schmuck? Alte Briefe? Eine Schatzkarte?
Noch während er so überlegte, kam ein kleiner Wind auf. Der Wind kräuselte sich über der Kiste zu einem kleinen Strudel zusammen und öffnete wie von Geisterhand den Deckel der Truhe.
Krabbenschreck riss die Augen auf.
Er starrte auf die geöffnete Kiste und konnte nicht glauben, was er da sah!
Weißes Zeug. Ein bisschen glitzernd. Er befeuchtete seinen linken Zeigefinger, steckte ihn in das seltsame Zeug und schleckte vorsichtig mit der Zunge daran. Zucker!
Der Seeräuberkapitän wühlte mit beiden Händen wie besessen durch das weiße Zeug. Doch es blieb dabei, es war nur Zucker, einfach nichts als Zucker.
Krabbenschreck konnte es nicht fassen.
Während er noch völlig schockiert auf den Zucker starrte, kam auch schon der nächste kleine Windstrudel heran, wirbelte etwas Zucker auf und wehte ihn hinaus auf das offene Meer.
Schnell klappte Krabbenschreck den Deckel der Truhe wieder zu und sagte: „Auch, wenn das nur Zucker ist, den kann man sicher noch für irgendwas gebrauchen. Kuchen, Plätzchen, Waffeln ... Ach, da fällt mir gewiss jede Menge ein.“
Krabbenschreck verschloss die Truhe und hievte sie ächzend und stöhnend die knarrenden Treppen zu seiner Koje hinunter, wo er sie unter seiner Hängematte verstaute.
Dann wischte er sich den Schweiß ab, denn so eine Truhe ist mächtig schwer.
Als er sich kurz ausgeruht hatte, kletterte Krabbenschreck wieder hinauf auf Deck und wurde dort auch sofort von einer Überraschung erwartet. Der Kapitän rieb sich die Augen, aber egal, wie doll er rieb, das Meer glitzerte rosa!
"Waaaaaaaaaaaaaahhhhhhh! Rosa!", brüllte er. Krabbenschreck war fassungslos! "Alles, nur das nicht!", brummelte er laut vor sich her.
Er konnte diese Farbe nicht ausstehen. Und jetzt war das ganze Meer rosa und es glitzerte auch noch! Was war passiert? Wie konnte das nur geschehen? Wer macht so etwas nur?
Krabbenschreck ließ sich auf die Planken nieder. Ganz langsam sank er nach unten, bis er auf dem Boden saß. "Rosa, unfassbar.", nuschelte er mit entsetztem Gesichtsausdruck vor sich her.
Plötzlich kam Smutje Rührdentopfaus seiner Kombüse heraus. Der Smutje, das ist der, der immer das Essen kocht. Auf einem Schiff heißt der Koch immer Smutje, doch nicht immer "Rührdentopf", denn das war sein richtiger Name. So hießen auch schon sein Vater und sein Großvater. Beide haben immer sehr gerne gekocht. Also war er natürlich auch Koch geworden. Und da er gerne reiste und als Einziger in der Familie nicht seekrank wurde, ging er auf das Schiff.
Er hatte seinen Kapitän brüllen, brummeln und nuscheln gehört und war neugierig geworden. Aber auf das, was er an Deck zu sehen bekam, war er wirklich nicht gefasst. Das Meer war rosa!
Schnell rieb er sich die Augen.
Hatte er etwa noch den Kochdampf aus der Kombüse darin? Nein, so doll er auch rieb, das Meer blieb rosa und es glitzerte noch dazu!
Rührdentopf setzte sich sprachlos neben seinen Kapitän. Er dachte darüber nach, welche Auswirkungen das wohl auf die Fische haben konnte. Rosa Fische? Rosa glitzernde Aale? Konnte man das dann überhaupt noch essen?
Fragen über Fragen.
Er dachte so viel nach, dass er davon schon Sternchen vor seinen Augen tanzen sah.
Was würden wohl die anderen Mannschaftsmitglieder dazu sagen, wenn sie aus ihrem tiefen Schlaf aufwachten?
Würden sie es dem zu üppigen Essen von gestern zuschieben? Das war so lecker, dass sie sich alle ihren Wanst vollgeschlagen und lange ihre Bäuche gerieben hatten. Ja, vollgefuttert und rund waren sie. Sie konnten wirklich froh sein, dass ihre Hängematten nicht so weit weg waren, denn somit konnten sie nach dem überaus reichlichen Mahl schnell in ihre Matten legen und in einen tiefen Schlaf hinübergleiten.
Manche grunzten noch im Schlaf, andere schmatzten ganz laut und Tim, der kleinste Seeräuber, drehte sich immer wieder hin und her. Was würden sie nun zu der rosa See sagen, wenn sie dieses Unglück sehen würden? Würden sie denken, dass sie das nur träumen? Vielleicht würden sie auch Angst bekommen. Nein, keiner hat Angst vor rosa! Oder doch? Würden sie meutern? Direkt von Bord hüpfen? Das Beiboot kapern und sich ein anderes Schiff suchen?
Krabbenschreck wusste es nicht. Auch Smutje Rührdentopf schüttelte nur den Kopf. Das war wirklich schlimm. Eine ganz, ganz schlimme Sache war das.
Krabbenschreck kratzte sich am Kopf. Er rieb sich die Stirn, dann das Kinn und danach kratzte er sich wieder am Kopf. "Was machen wir nun?", fragte Krabbenschreck seinen Smutje. Aber der wusste es auch nicht.
So beschlossen sie erst einmal, sich schlafen zu legen. Es könnte ja sein, dass am nächsten Morgen alles wieder vorbei war.
Währenddessen freute sich die Unterwasserfee mit den klangvollen Namen „Olga von der Wolga“ tief unten im Meer darüber, dass ihr Plan aufgegangen war. Sie hatte die Kiste mit dem Zauberzucker gestohlen und dem Kapitän des Seeräuberschiffes ins Fischernetz geschmuggelt. Zum Öffnen der Kiste brauchte man Werkzeug. Werkzeug, welches Olga nicht hatte. Sie wusste genau, dass der Kapitän die Kiste öffnen würde. Denn der Kapitän war unheimlich neugierig.
Seeräuberkapitäne sind immer neugierig! Wenn sie eine Kiste finden, dann müssen sie immer sofort hineinsehen. Sogar dann, wenn auf der Kiste ganz groß drauf gestanden hätte: "Nicht öffnen" hätte er sie auf gemacht. Ja, ganz bestimmt! Dass schließlich der Wind die Kiste öffnen würde, wusste Olga nicht. Aber Wind hätte sie unter Wasser ohnehin nicht gehabt.
Tja, und dann ging alles ganz schnell, das Meer war sofort rosa! Und alles nur, weil Olga von der Wolga, die Unterwasserfee, so gerne Brausealgen naschte! Denn wenn das Meer rosa wird, schmecken alle Algen nach Brause! Das wusste die Unterwasserfee.
Weil aber alle Meerjungfrauen und ihr Meerkönig davon immer Schluckauf bekommen, haben sie die Kiste immer sehr gut bewacht. Na ja, so gut dann doch nicht, denn die Meerjungfrau Astina, Tochter des Meerkönigs, war leider eingeschlafen. Direkt neben der Kiste war sie eingeschlafen und hatte sooo schön geträumt. So schön, dass sie nicht bemerkt hatte, dass ihr die Unterwasserfee die Kiste gestohlen hatte!
Oh, hatte der Papa böse geschaut, als Astina ihm gestanden hatte, was passiert war. Er sagte mit tiefer, grollender, aber sehr, sehr lieber Stimme: "Astina, erinnerst du dich an die Geschichte von der Höhle, die ich dir früher, als du noch klein warst, immer erzählt habe? Es ist die Höhle, die wie ein großes Krokodilmaul aussieht. Sie wird „Krokodilhöhle“ genannt. Früher war das eine Insel, sie ist heute aber bis zur Hälfte im Meer versunken. In dieser Höhle findest du eine Wunderlampe. Die musst du finden und daran reiben! In dieser Wunderlampe ist das "Machtsalz". Nur dieses Salz kann das Meer wieder blau machen. Schaffst du das, Astina?"
Astina nickte. Sie hatte gelernt, dass immer der, der was angestellt hatte, das auch wieder gutmachen musste. So war das nun mal in der Meerfamilie ...

 


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